Loch Netz – schwarze zone

Michael Kurzwelly

Sie halten mit diesem Wanderführer auch eine Gebrauchsanweisung in den Händen. Im Laufe Ihrer Wanderung werden Sie feststellen, dass es nicht einfach ist, Versuchungen und Neugierde zu widerstehen, denn die unbeleuchteten Tunnel der schwarzen Zone dürfen sie auf keinen Fall betreten. Die Kunst besteht darin, aufmerksam sich selbst im Verhältnis zu Ihrer Umgebung zu beobachten. Gerade durch die Tatsache, dass Ihnen das Betreten der Zone untersagt ist, kann in Ihrem Kopf ein völlig neuer Raum entstehen, den Sie mit Ihren eigenen Vorstellungen füllen können. Während Sie in den Lichträumen und den Raum-Zeit-Kapseln in ständiger Tuchfühlung mit der Zone bleiben, entwickeln Sie selbst Ihre ganz persönliche Idee der schwarzen zone, Ihre Realität. Doch was ist die Realität? Ist es die Summe unserer Wahrnehmungen mit Hilfe der Sinne in Raum und Zeit? What you see is what you get? Was Sie sehen ist das, was Sie bekommen? Oder anders: Was Sie sehen wollen ist das, was Sie bekommen? Was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, vergleichen wir in unserem Gehirn mit einem unglaublich komplexen mentalen Konstrukt – unserer Realität. Dieses Konstrukt ist ein Resultat aller unserer bisheriger Erfahrungen und Erkenntnisse aus erster und zweiter Hand. Solange das Wahrgenommene lückenlos in die von uns konstruierte Realität hineinpasst, reagieren wir mit traumwandlerischer Sicherheit auf das Wahrgenommene. Jedoch kann es Wahrnehmungen geben, die unser Weltbild in Frage stellen. Manchmal muss es völlig neu wieder aufgebaut werden und kann unser Selbstverständnis auf eine Probe stellen. Zu solchen weltverändernden Entdeckungen gehörte z.b. die damals unglaubliche Behauptung des Galileo Galilei, dass die Erde sich um die Sonne drehe und unsere Welt nicht das Zentrum des Universums sei. Loch Netz ist ein groß angelegtes Experiment, das unsere bisherige Wahrnehmung von Raum, Zeit, uns selbst und unserer Rolle zwischen Geburt und Tod befragt. Ich empfehle Ihnen, sich einen Notizblock und einen Stift einzupacken. Nehmen sie sich die Zeit, plötzlich auftauchende Gedankenblitze, Bilder, Geräusche, Gerüche oder Blicke zu notieren. Tauchen Sie ein in die feinen Kommunikationsfäden, die manchmal zwischen zwei Lichtpunkten in der Raum-Zeit-Kapsel Mikrogesellschaften entstehen lassen. Während Sie Loch Netz erkunden, bewegen Sie sich gleichzeitig in sich selbst hinein. Außen und Innen werden miteinander verschmelzen. Das ist das ultimative touristische Erlebnis, das wir Ihnen auf diese Weise bieten. Sie müssen nur den Knopf in Ihrem Kopf betätigen.

Was ist Loch Netz?

Die schwarze zone ist nicht wirklich schwarz, sie wird durch künstliches Licht erhellt.

Die meisten Menschen fürchten das Schwarz der Zone, sie erleiden Todesangst bei Orientierungsverlust im Dunkeln

Deshalb ist das Ordnungssystem in der schwarzen zone besonders rigide.

Ungewohnte Verhaltensweisen fallen im Untergrund sofort auf.

Der andere Blick

Die schwarze zone lehrt uns, dass Raumerfahrung relativ ist zum Erlebnisraum des Individuums. Das touristische Erlebnis wird hier weniger durch die visuelle Kommunikation äußerer Bilder erzeugt, als durch Kreation eines anderen Blickwinkels. So entsteht eine uns bisher unbekannte Wirklichkeit, die uns zu einem Abenteuerurlaub einlädt. Der so unvoreingenommene Blick von außen auf die durch die Gänge eilenden oder auf engstem Raum zusammengepferchten menschlichen Gestalten lässt uns plötzlich wie durch ein Brennglas Systeme, Ordnungen und Regeln glasklar in unser Bewusstsein holen und macht uns gleichzeitig die Absurdität deutlich, mit der wir uns selbst in Gefangenschaft nehmen. Die schwarze zone kann ganz plötzlich sehr weit nach innen und gleichzeitig nach außen führen. Wir können in uns hinein tauchen und so den Außenraum zum Verschwinden bringen oder wir können gleichermaßen aus kosmischer Sicht über unser eigenes belangloses Sein lachen. Das Warten scheint der eigentliche Charakter der schwarzen zone zu sein und beschreibt ein Paradoxon: Geschwindigkeit und Stillstand zugleich – der Raum selbst wird zur Nebensache.

Die Gänge

Sie sind Durchgangsorte. Wer aus der Provinz kommt, kann kaum mithalten mit dem vorgegebenen Tempo derjenigen, für die die schwarze Zone Alltag ist. Was muss passieren, um hier die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Nur Hunger, Durst, kleine und große Bedürfnisse oder Zeitschriften können ein Ausscheren aus der rennenden Herde bewirken. Ansonsten bleibt nur stehen, wem etwas aus der Hosentasche gefallen ist oder wer hier fremd ist. In pulsierenden Wogen strömen die Menschen hier durch, manchmal wird es still, bis die nächste Herde heraneilt.

Die Raum-Zeit-Kapsel

Eine Art Raum-Zeit-Kapsel verbindet die die Lichtpunkte der schwarzen Zone miteinander. In den Waggons entstehen manchmal flüchtige Kurzzeitgesellschaften, für den Augenblick, der 2 Bahnsteige voneinander trennt. Scheue und provozierende Blicke, zarte und harte Zeichen lösen einander ab. Die Kapsel zwingt ihre Nutzer in eine Enge, die für viele nur die Flucht nach innen zulässt, um dann doch scheu und neugierig um die Ecke zu blicken.

Der Lichtraum

Er füllt sich und leert sich im Rhythmus der ein- und ausfahrenden Züge. Zunächst tauchen vielleicht nur einige Personen, es werden immer mehr, je nach Tageszeit und Bahnsteig, was bis zum Getümmel ansteigen kann. Wenn der schwarze zone express eingefahren ist, findet ein Massenaustausch statt. Menschen strömen aus den Waggons und reiben sich kurz an den Einsteigenden, um dann in den Gängen zu verschwinden. Möglicherweise wird es erst einmal still. Die Bahnsteige sind mal mehr, mal weniger gestaltet. Manche sind architektonische und gestalterische Meisterwerke. Immerhin laden ein paar Bänke zum kurzzeitigen Verweilen ein, manchmal gibt es sogar einen Kiosk.

Loch Netz

Die schwarze zone wird durch ein System strukturiert, das sich im Besonderen in der Hausordnung manifestiert. Es ist jedoch zu vermuten, dass nur wenige Nutzer die Hausordnung der schwarzen zone kennen. Es ist uns Menschen eigen, dass wir uns intuitiv sofort versuchen, uns an vorgegebene Systeme anzupassen, um gut zu funktionieren. Aufgrund der Schwärze ist die Angst vor Kontrollverlust bei dem schwarze zone wachschutz besonders hoch. Wir alle kennen ja den kindlichen Albtraum, dass wir auf dem Weg von der Schule unsere Straße und unser Haus nicht mehr finden. Wir wachen dann schweißgebadet auf, und vergewissern uns, dass unser Koordinatensystem keinen Schaden genommen hat. In der schwarzen zone ist die Angst vor Albträumen nur verständlich.

Weisse Zone – Schwarze Zone

Die schwarze zone ist – der weissen zone ähnlich – ein Riss im Raum. Es empfiehlt sich daher, schnell Kontakt mit Menschen in unserer Umgebung aufzunehmen, so Kommunikation zu erzeugen, denn dadurch entsteht sofort Raum und wir sind gerettet, falls uns nicht ein Überfall auf die Wirklichkeit einen Strich durch die Rechnung macht. Der individuelle Weg ist die Flucht in den Raum eines Buches oder einer Zeitschrift – schlafen hilft auch.

Langeweile

Psychologen haben wissenschaftlich nachgewiesen, dass Langeweile die Mutter der Kreativität ist. Früher wurde hierfür der positive Begriff Muße gebraucht. Lustwandeln wir also sinn-los durch die schwarze zone, die Eingebung kommt von selbst, wenn wir sie nicht erzwingen wollen.

Krise

Wenn die schwarze zone überhaupt eine Aufgabe hat, dann besteht sie vor allem darin, Krisen zu erzeugen, bei Ihnen, den Zonetouristen. Denn erst Krisen können unser allzu fest gestricktes Lebensmuster durcheinander bringen und uns dazu zwingen, es neu zusammen zu setzen.