Manipuliere die Wirklichkeit

“Einer Raumumordnung geht eine Raumumdeutung voraus. Um diese Art des künstlerischen Eingriffs zu beschreiben, benutze ich den Begriff “Angewandte Kunst”. Ich verstehe ihn als Beschreibung einer künstlerischen Strategie, die gesellschaftliche Probleme fokussiert, in sie eingreift und sie in eine andere Wirklichkeitskonstruktion transzendiert. Ich stelle Werkzeuge her, um diese neue Realität in den Köpfen anderer Menschen entstehen zu lassen. “

Michael Kurzwelly

Die ‚Story Dealer‘ (eine Gruppe von Soziologen, Psychologen, Pädagogen und Künstlern) haben auf einem interdisziplinären Symposion zum Konstruktivismus, das 1992 in Heidelberg stattfand, die Teilnehmer in der Eingangshalle mit Fragebögen begrüßt. Darin wurde den Gästen mitgeteilt, dass einer der Vorträge ein Fake sei und sie sollten ankreuzen, welcher. Dadurch veränderte sich die Sichtweise der Rezipienten. Sie lachten inmitten sehr ernster Vorträge anerkannter Professoren

Was ist Wirklichkeitskonstruktion?

In philosophischen Abhandlungen, in der Neurologie, der Psychologie, der Soziologie und natürlich in der Kunst spielt die Frage nach der Konstruktion von Wirklichkeit immer wieder eine wichtige Rolle. Der ‚Radikale Konstruktivismus‘ besagt, dass Wirklichkeit erst durch die Verarbeitung der Sinnesreize im Nervensystem entsteht und durch gemachte Erfahrungen Verknüpfungen wachsen, die realitätsbildend wirken. Wie real ist also die Wirklichkeit, bzw. wodurch konstituiert sich Wirklichkeit? Ich denke, dass es so viele Wirklichkeiten gibt, wie Menschen und andere Lebewesen diesen Planeten bevölkern. Im Laufe unseres Lebens sind wir ständig damit beschäftigt, unsere individuelle Wirklichkeit zu entwickeln, zu reparieren und zu verändern. Als Kinder werden wir an Wirklichkeiten herangeführt, in denen wir uns später zurechtfinden sollen. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Wer in dieser Wirklichkeit Anerkennung erfährt, der wird sich in ihr häuslich einrichten. Unsere Wirklichkeit soll möglichst so beschaffen sein, dass wir sie ertragen können und wir uns in ihr gut fühlen. Wenn das nicht – oder nicht mehr -der Fall ist, reden wir von Krise. Dann können wir uns für Resignation oder Veränderung entscheiden. Wir kämpfen gegen Missstände und wenn es gar nicht mehr geht, dann zetteln wir Revolutionen an. Es entstehen neue Ordnungen, die so lange existieren, bis sie nicht mehr zufriedenstellend funktionieren. Ordnungen und Hierarchien brechen in sich zusammen, wenn sie nicht als solche anerkannt und respektiert werden.

Wie aber sieht der Umgang mit Wirklichkeiten aus, wenn wir uns ständig bewusst sind, dass sie nur temporär gültig sind? Auch wir sind kurzzeitige Ereignisse in Zeit und Raum. Wir werden geboren und wir leben eine gewisse Zeit, um dann wieder zu verschwinden. Es gibt nur diese meine oder deine Zeit und die Wirklichkeiten, die wir uns erschaffen. Wenn jemand stirbt, erlischt eine Welt. Wird jemand geboren, geht eine neue Welt auf. Der Wandel ist also ständiger Begleiter unseres Lebens. Als Gesellschaftswesen entstehen wir erst aus den Wechselbeziehungen zu anderen Menschen. So konstruieren wir unsere eigene Geschichte, stellen unsere Zugehörigkeiten her, bestätigen vorhandene Einordnungen oder lehnen sie ab. Eines dieser gesellschaftlichen Konstrukte ist der Nationalstaat. Er existiert nur, weil es genügend Menschen gibt, die an seine Existenz glauben. Um das zu erreichen, benutzt er Strategien der Identifikationsbildung. Im Geschichtsunterricht lernen wir die Geschichte unseres Landes und der Welt als Nabelschau, große Persönlichkeiten werden vom Nationalstaat vereinnahmt – der deutsche Goethe, der polnische Mickiewicz, der französische Voltaire… Eine wichtige Rolle spielt dabei der Sport: ein Athlet rennt mit der Fahne eines Staates auf der Brust durch die Gegend und gewinnt – eine ganze Nation freut sich, das Selbstbewusstsein wächst, ohne dass sich die Zuschauer wirklich bewegt haben. Die „großen Wirklichkeiten“, die uns vorgegeben werden, sind nur eine Vereinbarung über eine Realität, die bereits Menschen vor uns als Rahmen entwickelt haben. Aus diesem Grunde können wir jederzeit neue Wirklichkeitskonstruktionen erschaffen. Wenn wir nach dieser neuen Realität leben, manifestiert sie sich quasi als „self fulfilling prophecy“ (sich selbst erfüllende Prophezeiung). Zunächst wird sie belächelt, dann wird sie als bedrohlich empfunden und angegriffen und irgendwann wird sie möglicherweise zur allgemeingültigen Wirklichkeit.

Wirklichkeitskonstruktion als angewandte Methode

Ausgangspunkte für die Entwicklung neuer Wirklichkeiten sind Heterotopien, Visionen einer besseren oder anderen Welt. Es handelt sich dabei nicht um Utopien im klassischen Sinne, denn Utopien sind eher unerreichbare Traumorte. Wichtig ist der klare Bezug zu den aktuell vorherrschenden Wirklichkeiten und ihren konstituierenden Strategien. Darum gefällt mir der von Michel Foucault entwickelte Begriff der Heterotopie, als Bestimmung von Orten, die eine neue Wirklichkeit vorwegnehmen und sich dann an der noch bestehenden Ordnung reiben. Es geht darum, die Existenz dieser neuen Wirklichkeit zu behaupten, indem sie in einem ersten Schritt visualisiert wird. Besonders gut eignen sich hierfür als Mimikry verschiedene Methoden der Produktvermarktung, Branding, oder touristische Produkte, denn Tourismus erfindet Räume neu, um sie für Touristen (immer auf der Suche nach dem ultimativen Erlebnis) interessant zu machen. Anschließend ist es wichtig, der neuen Realität eine Form zu geben, die zum Mitmachen einlädt.

Als kurzzeitige Maßnahme können durch diese Vorgehensweise mit den Mitspielern gemeinsam neue Sichtweisen und Module entwickelt werden. Damit aber eine neue Wirklichkeit auch wirksam werden kann, ist es wichtig, sie als Langzeitprojekt zu konzipieren und durchzuführen. Erst durch die ständige Behauptung und das konsequente Vorleben der neuen Realität tritt sie in das gesellschaftliche Leben ein. Bei der Anwendung dieser Methode ist Humor ein wichtiger Hebel, damit schwere Probleme „leicht“ werden, immer in dem Bewusstsein, dass sich alles um uns herum ständig ändert. Das Scheitern ist ein wichtiges Ereignis bei der Entwicklung von Wirklichkeitskonstruktionen, basierend auf dem Wissen, dass wir uns ständig im Wandel befinden.

Vielleicht sollte ich präziser von einer „Wirklichkeitsplastik“ sprechen, indem ich mich auf den von Joseph Beuys kreierten Begriff der „Sozialen Plastik“ stütze. Im Gegensatz zur Skulptur oder Konstruktion ist di e Plastik etwas Unvollendetes, das sich in einem ständigen Wandlungsprozess befindet. Geschichtlich betrachtet sieht man deutlich, dass menschliche Gesellschaftsformen ständigen Wandlungsprozessen unterliegen. Schiller sprach von ‚Spieltrieb‘ und ‚Formtrieb‘ als Kräfte gesellschaftlicher Entwicklung, Nietzsche schrieb, dass wir uns Gesellschaft als ein Schiff vorstellen sollten, das auf hoher See ständig umgebaut werden muss, um nicht zu sinken. Einen sicheren Hafen gibt es nicht.

Aber wir wünschen uns Sicherheit, denn wir haben Angst vor dem Scheitern. Bisher waren Politiker ständig darum bemüht, den Menschen das Gefühl von Sicherheit zu geben. Viele Entscheidungen werden als Sicherheitsvorkehrungen gefällt und dann ergreifen Menschen Berufe nicht, weil sie sich dazu berufen fühlen, sondern weil sie sich Sicherheit und Wohlstand versprechen. Dabei vergessen sie, dass sie nur ein einziges Leben gestalten können und jeder Tag unwiderruflich vergeht. Weil das leichter gesagt als getan ist, ist es sehr wichtig, über uns selbst zu lachen und uns unsere Lächerlichkeit bei der Konstruktion von Wirklichkeit immer wieder vor Augen zu führen.